07.01.48: Die "große Demokratie" (im folgenden mit g. D. abgekürzt)


Elias Hauster an Julius und Rachel Hauster (Greif):





Rad. 7/I 1948

Liebe Kinder, lieber Jul!

Noch ist der eine Brief nicht abgegangen, als wir von euch die sehr freudige Überraschung einer Briefsendung hatten. Vielen Dank für die Neujahrswünsche, die wir herzlichst erwidern. Deiner amerikanischen Sippe sage ich voraus, daß sie nicht in Belgien [Anm.: verm. ist Brasilien gemeint] bleiben, sondern nach Palästina fahren wird, wo sie eine Fabrik gründen wird, die den ganzen, vordern Orient mit ihren Produkten versieht. Dich sollen sie zum techn. Direktor resp. Mitdirektor machen. Dein ganzer Brief ist eigentlich ein Abschwenken von Amerika u. ein Hinschwenken nach Palästina. Erklärlich: Das Massenbeispiel steckt an. Ob du dort bleiben, oder nach Australien weiterfahren wirst, hängt von den Existenzmöglichkeiten ab, die du dort vorfindest. Ich denke, wir haben zu einer solchen Reise noch physische Kraft genug: es fahren ältere Leute. Zu reisen (natürlich mit Verkehrsmitteln) ist doch leichter, als schwere Kübel über Treppen zu tragen. Nur ist meine Existenzfrage auswärts noch ungelöst, höchstens der Judenstaat erkennt meine Pensionsansprüche an u. übernimmt die Pensionskasse jüd. Emigranten im Verrechnungswege (in Form von Holzimporten etc.). Ein Rückwanderer aus Palästina ist mein poet. Freund Furtuna (Dr. Pekelman[n]), dessen Brief ich dir beilege, er wird dich interessieren, wegen der Darlegung dortiger Verhältnisse. Er hat über seine dortigen Eindrücke auch jüngsthin in der "Wizo" [Women’s International Zionist Organisation] einen Vortrag gehalten. Daß jemand von Australien rückwandert, habe ich noch nicht gehört: vielleicht, weil der Rückweg so weit ist. Die Hinreise will man dir ja bezahlen: es liegt also den Leuten viel an Zuwachs durch euch: du müßtest dir aber auch die Bezahlung der Rückreise ausbedingen, falls dein Bleiben dort aus irgend welchen Gründen unmöglich sein sollte. Czernowitzer, 2 junge Ärzte Dr. Kinzbrunner (der eine auch Klaviervirtuose) fuhren v. d. J. 1939 dorthin, haben auch dorthin ihre Eltern (Verwandte deiner Mutter) bezogen u. fühlen sich dort sehr wohl, du würdest ihnen sicher dort begegnen. Hier ist die Stimmung propagandistisch so vorbereitet, daß dem Anschlusse an die "große Demokratie" [Anm.: Sowjetunion] (im folgenden mit g. D. abgekürzt) nichts im Wege steht. Dasselbe dürfte auch in den Ländern der Fall sein, die ich dir im vorigen Schreiben aufgezählt habe, so daß die g. D., bis zum adriat. Meer reichend, sehr bald auf die Dardanellen wird pfeifen können: sie wird diese Meerenge von vorn u. hinten forcieren, u. den Amerikanern mit billiger Deportierten- u. Sklavenarbeit am Weltmarkt konkurrieren. So ist dort z. B. eine Fabrik fertiggestellt, die täglich 1000 Automobile erzeugen wird. Aber auch in Getreide, Baumwolle, etc., so daß die Dollar u. der Lebensstandard des angelsächs. Arbeiters schwer bedroht ist, da Amerika ebenfalls gezwungen sein wird, Arbeitssklaven um einen Spottlohn zu halten. Wo es aber um Konkurrenz u. Valuta geht, versteht der Amerikaner keinen Spaß: siehe Emanzipationskrieg der Neger zwischen Nord- u. Südstaaten der U.S.A. vor deren Vereinigung. Damals lag der Fall ganz gleich, die Weltgeschichte wiederholt sich. Das dankbare Palästina wird der g. D. sicherlich einen See- u. Luftstützpunkt bewilligen, so daß auch dieses Land vom bevorstehenden III. Weltkriege nicht verschont bleiben wird. Aber noch sind ja die Engländer nicht heraus! Nur das Gebiet der allen Völkern heiligen Stadt Jerusalem wird voraussichtlich von Bombardierungen verschont bleiben, es gilt also, dort rechtzeitig festen Fuß zu fassen. Die Palästinareise würden wir, abgesehen von unserer ungeklärten Existenzfrage, mit euch eher riskieren, als später allein. Nur müßte alles vorher so arrangiert sein, daß wir ein Minimum an Strapazen auszustehen haben. Die Radautzer Spannung ist 220 Volt Gleichstrom, darüber kann dir dort jedes bessere Elektrogeschäft Auskunft geben. Bei uns laufen Feiertage ganz sang- u. klanglos ab, die Einsamkeit ist eine Zugabe des Alters. Nur Freitag abends singe ich S'miroth [Anm.: hebr. "Volkslieder]. Unser Lebensstandard kann nur im angelsächs. Sektor (zu dem auch Australien gehört) oder auch in Palästina eine Wendung zum Menschenwürdigen erfahren, im Weichbilde [Anm.: Ausdehnung eines bewohnten Gebietes] der g. D. niemals. Ich werde mir ein Hühnerzuchtbüchel anschaffen, vielleicht halte ich mit den Brutmaschinenküken in Palästina einen Krähkurs.

Wir küssen euch, eure Alten.



Nachtrag

Vor der großen Demokratie werden wir uns auf alle Fälle nach Palästina verziehen u. bitten dich daher um die Greif'sche Amerikaner Adresse, um von Palästina aus an dich schreiben zu können. Ferner bitte ich dich dringend, ehebaldigst an die Brüsseler Polizeidirektion, unter Beischluß v. internationalem Retourporto, eine Anfrage ungefähr folgenden Inhaltes zu richten: Dein Bruder M[aximilian]. H[auster]. wurde im Herbst 1941 über Denunziation des Nazikonfidenten [Nazispitzels] Ing. C[onstantin]. verhaftet u. bis zum 15/I 1943 im Arbeitslager Festung Breendonk bei Willebrook sub [unter] N° 565 gefangen gehalten. Von dort wurde er am genannten Tage sub [unter] N° XIX/609 ins Sammellager Mecheln überstellt u. ging noch am selben Tage zum "Arbeitseinsatz Ost" ab.

1.) Für welche Vernichtungsart war der "Arbeitseinsatz Ost" der Deckmantel? Ist der Gefangene zu Fuß durch den Winter oder in Viehwaggon, Vergasungsauto od. dgl. gejagt worden? Was ist mit dieser Gefangenengruppe geschehen, wie u. wo war ihr Ende? Zu welchem Krematorium oder Menschenseifenfabrik ist sie geleitet worden?
2.) Der Gefangene hatte bei seiner Festnahme sicherlich Kleider u. Wäsche, vermutlich auch ein eigenes Auto, sicher aber eine Schreibmaschine gelassen. Wer hat diese Habseligkeiten - u. mit welchem Rechte - an sich genommen?

Ich verbringe schreckliche, schlaflose Nächte u. mache mir die bittersten Vorwürfe, warum ich nicht für ihn eine Einberufung zur Munca
[Anm.: rum. "Arbeit", verm. Arbeitsdienst] erwirkt habe. Mein Kopf war damals von deiner [Anm.: Text geschwärzt] u. von den allgemeinen Verhältnissen benommen. Das wäre aber vielleicht seine Rettung gewesen.

Vater



P.S. II Beim Briefe nach Brüssel ist ausdrücklich zu bemerken, daß der Umgebrachte zuletzt in Brüssel gewohnt hat. Seine letzte Adresse ist mir unbekannt, sie ist durch die Polizei von Frl. Weikmann, deren Adresse du hast, zu erfragen.

Der richtige Ausdruck für Deckmantel ist: Fiktion, die Abgangsbezeichnung "Arbeitseinsatz Ost" war eine Fiktive. Wenn du kommst, dann bitten wir dich, uns einen Petrol-Opalschirm N° 11 u. einen (gebrauchten) Messinghahn 1/2" für mein zu errichtendes Brausebad mitzubringen (sehr wichtig!)

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